Kulturelle Teilhabe von Mädchen und jungen Frauen an Fahrradkultur
Mädchenfahrradwerkstatt

Projektinhalte
Das Fahrrad ist Teil der deutschen Kultur. KidBike e.V. möchte kulturelle, mobilitäts- sowie geschlechtsbezogene Barrieren abbauen, indem sie die Mädchen und jungen Frauen mit und ohne Migrations- sowie Fluchthintergrund an das Thema Fahrradtechnik und Fahrradfahren herangeführen. Über die Teilhabe an der deutschen Kultur werden die Mädchen und jungen Frauen in diese integriert. Mit der Reparatur von Fahrrädern sowie dem Aufbau eines (eigenen) Rades, setzen sich die Mädchen und jungen Frauen mit ihren Berührungsängsten und Hemmschwellen gegenüber Technik auseinander, bauen Unsicherheiten aufgrund verinnerlichter geschlechtsspezifischer Rollenmuster ab und bekommen weibliche Identifikationsfiguren angeboten. In der Werkstatt können sie frei von der teilweise kulturell bedingten Scham gegenüber Jungen sein und sich entfalten. Das trifft vor allem auf Mädchen zu, die kulturell bedingt eher nicht zum Fahrrad greifen bzw. von den familiären Strukturen kaum dazu ermutigt werden. Über die Teilnahme an einem Fahrradkurs in den von der BUF - Bildungseinrichtung für berufliche Umschulung und Fortbildung e.V. verwalteten Jugendverkehrsschulen wird den Mädchen und jungen Frauen nicht nur die StVO sondern auch ein sicheres Fahrgefühl vermittelt. Das Fahrrad schafft den Mädchen auf einfache Art und Weise die Möglichkeit, bezirksübergreifend mobil zu sein und so Anteil an der deutschen Fahrrad- bzw. Freizeitkultur zu haben.
Kernthemen der Mädchenfahrradwerkstatt sind (interkulturelle) Fahrradkultur, Chancengleichheit, Heterogenität als Chance im Sinne eines Synergieeffektes, Unabhängigkeit durch Mobilität, das Erlernen von Schlüsselqualifikationen (wie Konfliktfähigkeit, Kommunikation, Frustrationstoleranz, Teamfähigkeit, etc.), Selbstwirksamkeit, Chancenerhöhung entgegen des gängigen Rollenklischees, Empowerment sowie Teilhabe an gesellschaftlicher Kooperation.
Situationsbeschreibung
Es hat sich gezeigt, dass besonders Mädchen und junge Frauen mit türkisch- oder arabisch-stämmigem Hintergrund das Fahrrad noch nicht als Verkehrsmittel nutzen. Ein Grund hierfür liegt oft in patriarchalen Familienstrukturen, die nicht vorsehen, den Mädchen und Frauen Mobilität zu ermöglichen. Vorbehalte gegenüber Frauen und Technik oder/und Frauen und Fahrradfahren sind nach wie vor existent, obwohl die Familien zum Teil bereits schon lange Zeit in Deutschland leben. Ein weiterer Aspekt für die mangelnde Wahrnehmung des Fahrrades als Verkehrsmittel ist aber auch eine andere kulturelle Bedeutung des Symbols Fahrrad - oftmals ist die Fortbewegung mit dem Fahrrad in vielen Kulturen gleichbedeutend mit einem Symbol von Armut. Nicht zuletzt ist der Einsatz oder Besitz eines Fahrrades darüber hinaus auch eine Frage von Materialkosten und somit schlichtweg eine reine Geldfrage. Hierbei handelt es sich nur um ein paar Auszüge von (kulturell) bedingten Faktoren, die den Mädchen und jungen Frauen das Fahrradfahren oder gar den Besitz eines eigenen Fahrrades erschweren, weil es auf vielen Ebenen an familiärer Unterstützung mangelt. KidBike e.V. setzt an dieser Stelle an und hat es sich zum Ziel gesetzt, diese Lücke zu schließen.
Kreuzberg gehört zum Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und liegt direkt in der Mitte von Berlin. 266.869 Menschen leben in Friedrichshain-Kreuzberg. Davon haben 37% einen Migrationshintergrund, 52,9% davon sind Kinder und Jugendliche (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg Statistischer Bericht A I 5 hj 1 /12 Stand 30.06.2012). In Kreuzberg wohnen vor allem Familien der Einwanderer der Fachkräfteanwerbung der 70er Jahre. In Friedrichshain beginnt durch Gentrifizierung ein Wandel vom ehemals Arbeiter- und Angestelltenbezirk hin zur mittleren bis gehobenen Mittelschicht. In einzelnen Teilen von Kreuzberg gibt es ebenfalls erste Gentrifizierungseffekte. Die Mädchenfahrradwerkstatt befindet sich im sogenannten Wrangelkiez, der durch seine sehr hohe Anzahl an Bewohner/innen mit Migrationsanteil sowie Hartz IV-Bezug bekannt ist. Etwa 12.500 Menschen verschiedenster Herkunftsländer und aus allen Regionen der Bundesrepublik leben im Wrangelkiez. 48,25 % der Bevölkerung ist nicht-deutscher Herkunft. Die Mehrheit von ihnen hat familiäre Wurzeln in der Türkei. Das Miteinander und Nebeneinander in vertrauten Nachbarschaften und im Fremdgebliebenen prägen den Stadtteil.
Soziale Mängel und Konflikte
Während ein junges und mobiles Publikum einerseits den Kiez für sich als Freizeit- aber auch zunehmend wieder als Wohnquartier entdeckt, prägt andererseits eine immer noch hohe Arbeitslosigkeit das Quartier. Viele Bewohner und Bewohnerinnen leben in prekären Verhältnissen und gehören zur bildungsfernen Bevölkerungsschicht. Das betrifft besonders die Jugendlichen, die für sich keine berufliche und persönliche Perspektive sehen. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist nichtdeutscher Herkunft. Die Mehrheit hat familiäre Wurzeln in der Türkei. Aufgrund der verstärkten Gentrifizierung durch den Zuzug der mittleren bis gehobene Mittelschicht öffnet sich die soziale Schere immer mehr. Dies führt nicht nur zur Umwandlung von preiswertem Wohnraum, sondern auch zur Verdrängung alt eingesessener Läden und Betriebe zugunsten großer Ketten. Dies wiederum führt unweigerlich zur Konfrontation und offenen Konflikten. Die hohe Anzahl der Hartz IV Empfänger/innen gepaart mit beruflicher Perspektivlosigkeit kann die sehr hohe Anzahl der Straftaten erklären. Kreuzberg gehört neben Mitte zu dem Bezirksteil mit den meisten Straftaten. Das Sicherheitsniveau kann als sozialer Mangel für alle Bewohner angesehen werden.
Zielgruppe
Die Zielgruppe der Maßnahme sind Mädchen und junge Frauen im Alter zwischen 12 und 27 Jahren mit und ohne Migrations- und/oder Fluchthintergrund. Bislang gibt es kein Projekt, was sich mit dem kulturellen Verbot - dass Mädchen und Frauen nicht Fahrradfahren dürfen - auseinandersetzt und praktisch angeht. In Berlin und in der Bundesrepublik ist dieser Ansatz, über das Thema Fahrradtechnik Mädchen und junge Frauen eine kulturelle Öffnung aufzuzeigen und sie dadurch stärker zu integrieren, einmalig. Die Bedarfe zeigen, dass eine Erweiterung der Öffnungszeiten und Ausbau der infrastrukturellen/personellen Kapazitäten dringend notwendig ist, um dem Bedarf gerecht zu werden.
Projektdurchführung
Der gemeinnützige Verein KidBike e.V. hat 2014 das Projekt Mädchenfahrradwerkstatt von der Bildungseinrichtung für berufliche Umschulung und Fortbildung übernommen. KidBike e.V. hat sich zum Ziel gesetzt, junge Menschen jeglicher Herkunft in den Bereichen Mobilitätserziehung, Erlernen von Fahrradtechnik und Verkehrssicherheit zu fördern. Insbesondere junge Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund sollen mittels dieser Angebote ihre Partizipation in der Gesellschaft verbessern können. Die Mädchenfahrradwerkstatt befindet sich bei Alia, dem Zentrum für Mädchen und junge Frauen, im Wrangelkiez in Berlin Kreuzberg. Die Werkstatt hat Dienstags und Mittwochs von 16-19 Uhr geöffnet. Die Anleitung, Vor- und Nachbereitung übernehmen drei Zweiradmechanikerinnen auf Honorarbasis. Die Ansprache der Mädchen erfolgt einerseits über Schul-AG's zum Thema Fahrradtechnik für Mädchen, andererseits werden Mädchen über Öffentlichkeitsarbeit wie Print- und elektronische Medien sowie soziale Netzwerke für die Mädchenfahrradwerkstatt gewonnen.
Aufgrund der identifizierten Problemfelder hat KidBike e.V. auf die Nutzerinnen zugeschnittene Rahmenbedingungen für die Mädchenfahrradwerkstatt geschaffen. Mit der Angliederung an Alia, dem Zentrum für Mädchen und junge Frauen, ist ein geschützter, wertefreier Raum, losgelöst von nach wie vor verankerten Rollenklischees, geschaffen worden. Er ermöglicht den Teilnehmerinnen, sich auszuprobieren und zu lernen. Über diese Anbindung ergeben sich zusätzliche Synergieeffekte, die nicht außer Acht gelassen werden sollten. Die Mädchenfahrradwerkstatt bietet sowohl die offene Werkstatt mittels der zwei Nachmittage an, als auch zusätzlich einen geschlossenen Rahmen über eine Schul-AG Fahrradtechnik. Diese ermöglicht den Schülerinnen, sich sogar innerhalb des schulischen Rahmens auf kreative Art und Weise mit dem Thema Fahrrad und Fahrradtechnik vertraut zu machen.
In der offenen Werkstatt entstehen nicht selten Synergieeffekte, wenn beispielsweise das Mädchen aus Bosnien, das zur Zeit im Flüchtlingsheim wohnt, zur Bohrmaschine greift, sich mit der jungen Frau aus Spanien ohne Worte austauscht und beide beim gemeinsamen Schrauben am Fahrrad voneinander lernen. Die Mädchen und jungen Frauen erhalten dank der Mädchenfahrradwerkstatt die Möglichkeit, sich vor Ort über einen längeren Zeitraum sogar ein (eigenes) Fahrrad aufzubauen. Den Aspekt der Materialkosten löst der Verein KidBike e.V. einerseits anhand gespendeter "Fahrradleichen", andererseits mittels Spenden und Zuschüssen durch Fördergeber. Zur aktiven und konstruktiven Teilhabe und Mitgestaltung werden die Mädchen neben dem Gespräch auch zusätzlich mittels eines vor Ort ausliegenden Buches zu Feedback ermutigt, in dem sie freie Assoziationen zu ihren (praktischen) Erlebnissen äußern können - das Buch ist bereits eine lebendige Sammlung von Bildern und Texten. Im Rahmen des 15-jährigen Jubiläums der Stiftung Pfefferwerk, die die Mädchenfahrradwerkstatt über mehrere Jahre gefördert hat, ist ein kleiner Dokumentationsfilm entstanden, der einen lebendigen Eindruck von der motivierten Arbeit der Mädchen vermittelt.
Ausblick
Um noch mehr Mädchen und jungen Frauen mit und ohne Migrations- und/ oder Fluchthintergrund diese kulturelle Teilhabe und Mobilitätserfahrung zu ermöglichen, ist die Mädchenfahrradwerkstatt u.a. Teil des Netzwerks Sozialer Fahrradwerkstätten. Überdies ist ein weiterer Ausbau von Kooperationen mit türkischen und arabischen Elternvereinen geplant, sowie eine Zusammenarbeit mit diversen Vertretern von sozialen Stadtprojekten. KidBike e.V. arbeitet außerdem bereits mit dem Flüchtlingsheim in der Zeughofstrasse zusammen und steht im Kontakt mit dem Flüchtlingsheim Stallschreiberstraße in Kreuzberg. Eine Ausdehnung des Angebots auf weitere Flüchtlingsheime strebt KidBike e.V. in naher Zukunft an. Zusätzlich wird stetig an der Gewinnung von weiteren Netzwerkpartnern sowie einem Ausbau der Kooperationen gearbeitet.
Perspektivisch soll das Projekt bei erfolgreicher Stabilisierung des aktuellen Standortes über den Förderzeitraum hinweg auf weitere Bezirke der Stadt Berlin ausgeweitet werden. Eine Standorterweiterung kann sich der Projektträger derzeit für die beiden Stadtteile Berlin-Neukölln und Berlin-Marzahn vorstellen. Detaillierte Analysen der Stadtteilbedarfe stehen bislang noch aus.