Synergien erfolgreich nutzen
Fahrradtourismus als Wegbereiter für den Alltagsverkehr

Einführung
In vielen Regionen, insbesondere in ländlich geprägten Räumen, fristet das Fahrrad nach wie vor ein Schattendasein. Hier hat es zumeist den Ruf als Verkehrsmittel für Kinder, Jugendliche und Geringverdienende oder als Sport- und Freizeitgerät. Dass das Fahrrad auch im Alltag ein ernst zu nehmendes Fortbewegungsmittel ist, können sich nur wenige vorstellen. Dies liegt sowohl an den topographischen Begebenheiten als auch an der meist unzureichenden Fahrradinfrastruktur. Zudem fehlt es oft an Möglichkeiten und Beispielen, das Radfahren im Alltag auszuprobieren.
Durch die zunehmende Verbreitung von Pedelecs werden neue Regionen für das Fahrrad erschlossen. Mittelgebirgsregionen, in denen bisher lediglich trainierte Rennradfahrende unterwegs waren, werden nun auch für untrainierte, unerfahrene und ältere Fahrradfahrende interessant.
Ein großes Problem bleibt weiterhin, dass in vielen ländlichen Kommunen die Radinfrastruktur mangelhaft bis ungenügend ist. Auch die lokale Bevölkerung ist meist noch nicht überzeugt, dass Radfahren in ihrer Region möglich ist. Über den „Zwischenschritt“ Radtourismus können regionale Gegebenheiten verbessert und neue Gruppen von Nutzenden an das Fahrrad im Alltagsgebrauch herangeführt werden.
Vom Fahrradtourismus lernen
Auch in Regionen, in denen der Anteil des Radverkehrs verschwindend gering ist, hat ein großer Teil der Bevölkerung bereits Erfahrungen mit dem Fahrrad gemacht, meist in der Kindheit und Jugendzeit. Viele Menschen genießen aber auch die Vorzüge eines Radurlaubs und kommen so in ihrer Freizeit immer wieder mit dem Fahrrad in Kontakt. Laut der ADFC-Travelbike-Radreiseanalyse 2017 haben 29 % der Deutschen im Jahre 2016 Tagesausflüge mit dem Fahrrad absolviert, das sind knapp 20 Mio. Menschen. 7,6 % aller Deutschen absolvierten eine Radreise mit mindestens drei Übernachtungen [ADFC 2017]. Diese Urlaube finden aber überwiegend weit weg vom Heimatort statt, in heimischen Gefilden kann man sich das Fahrradfahren oftmals nicht vorstellen. Dies gilt auch für Tagesausflüge.
Um dieses versteckte Potenzial zu aktivieren, ist es sinnvoll, mittels Einrichtung attraktiver Fahrradrouten die lokale Bevölkerung davon zu überzeugen, auch in der eigenen Region das Fahrrad für Freizeittouren zu nutzen. Dabei sind regionale Themenrouten mit unterschiedlichen Schwerpunkten eine einfache Möglichkeit der Aktivierung. Schwieriger gestaltet sich der Anschluss der Region an einen überregionalen Fernradweg. Sollte dies gelingen, bringen ortsfremde Radtouristen nicht nur die lokale Wirtschaft in Schwung, sie zeigen auch der Bevölkerung, dass ihre Region attraktiv ist und sich gut mit dem Fahrrad erradeln lässt.
Planung touristischer Radrouten
Unabdingbar bei der Planung neuer touristischer Radrouten ist eine attraktive Wegführung abseits des motorisierten Verkehrs. Radtouristen nehmen gerne Umwege in Kauf, wenn diese sie auf schönen, ruhigen Wegen durch eine abwechslungsreiche Landschaft führen. Asphaltierte Wege sind dabei nicht zwingend notwendig, erhöhen aber die Akzeptanz und wirken sich auch positiv auf die angestrebte Alltagsnutzung durch die lokale Bevölkerung aus. Fehlende Streckenabschnitte müssen gebaut oder existierende Land- und Forstwirtschaftswege ertüchtigt werden. Damit die Radrouten auch ohne eigenen Pkw erreicht werden können, sollten sie – zumindest an Start- und Endpunkt – idealerweise an das Netz des Schienennahverkehrs angebunden sein. Sollte dies nicht möglich sein, ist das Anbieten eines Radbusses eine sinnvolle Alternative.

Regionale Themenrouten
Jede Region besitzt ihre Spezialitäten und Sehenswürdigkeiten. Diese können Ideen- und Namensgeber für regionale Themenrouten sein, die als Rundkurs oder als Streckentour geführt werden. Regionale Themenrouten sind in der Regel als Tagestouren konzipiert oder können zumindest an einem Wochenende absolviert werden. Wichtig bei Streckentouren ist, dass die Nutzenden einfach und sicher zurück an den Ausgangspunkt gelangen können oder es Anschlussmöglichkeiten für weitere Touren gibt. Beispiele für regionale Themenrouten sind z.B. der Storchenradweg im Havelland, der Radweg Puderbacher Land im Westerwald oder der Panorama-Radweg Balkantrasse im Bergischen Land.
Überregionale Fernradwege
Nach ADFC-Schätzungen gibt es in Deutschland etwa 150.000 km an Radrouten, davon entfallen knapp 50.000 km auf die rund 220 Fernradwege mit über 100 km Länge [Jennert 2013]. Überregionale Fernradwege führen durch mehrere Regionen und queren häufig auch die Grenzen zwischen Bundesländern, z.T. sogar die Staatsgrenze. Populäre Fernradwege verlaufen oft entlang von Flüssen. Seit Jahren finden sich in den Top 10 der beliebtesten Radfernwege vornehmlich Flussradwege wie Elberadweg (2017 zum dreizehnten Mal in Folge beliebtester Fernradweg in Deutschland!) oder Donauradweg. Lediglich Ostseeküstenradweg und Bodenseeradweg als Nicht-Fluss-Radwege sind regelmäßig in den Top 10 vertreten [ADFC 2017]. Nichtdestotrotz gibt es auch Fernradwege abseits von Gewässern, die durch hügelige Landschaften führen, sich aber durch die zunehmende Verbreitung von Pedelecs einer steigenden Beliebtheit erfreuen. Beispiele dafür sind der Bodensee-Königsee-Radweg, die Via Claudia Augusta oder die Burgenstraße.
Bahnradwege
Laut der Internetseite www.bahntrassenradeln.de gab es im Februar 2017 in Deutschland 731 Radwege mit insgesamt knapp 5.200 km, die auf ehemaligen Bahntrassen verlaufen. Dabei liegen Nordrhein-Westfalen mit 192 Wegen und 934 km und Bayern mit 97 Wegen und 973 km im Bundesländervergleich weit vorne. Alleine in NRW wurden im Rahmen des „Förderprogramms Allenradwege“ zwischen 2008 und 2015 300 km Bahnradwege errichtet [BEG 2010].

Bahnradwege bieten objektiv und subjektiv sichere Wege, die ohne nennenswerte Steigung, fast ohne niveaugleiche Kreuzungen und meist abseits des Kfz-Verkehrs verlaufen. Sie sind daher ideal für die Naherholung, je nach Routenverlauf aber auch optimal für Pendler und Schulkinder. Verwaltung und Politik sind laut Lennertz/Nikolaus [2016] oftmals überrascht, auf welch großes Interesse Bahntrassenprojekte in der Bevölkerung stoßen. Großer Vorteil bei der Umwidmung von Bahntrassen ist, dass kostspielige Bauwerke wie Brücken, Viadukte und Tunnel schon vorhanden sind, Nachteil ist, dass diese auch unterhalten werden müssen. Gerade diese Bauwerke sind aber für Touristen die Highlights der Strecke, und für Alltagsradelnde ermöglichen sie das schnelle und einfache Vorankommen. Beispiele für besonders erfolgreiche Projekte sind der Bergische Trassenverbund (zu dem u.a. auch die Nordbahntrasse in Wuppertal zählt), der Vennbahnradweg oder der Sauerlandradring. Große Streckenabschnitte des Radschnellweges Ruhr RS1 sind oder sollen ebenfalls auf ehemaligen Bahntrassen errichtet werden. Hier sind das Hauptzielpublikum die Pendler der Region, aber auch für Urlauber wird es eine neue Möglichkeit sein, das Ruhrgebiet zu entdecken.
Überregionale Zusammenarbeit
Für die Konzeption und Errichtung eines Fernradweges bedarf es einer engen überregionalen, bei kürzeren Themenrouten zumindest einer interkommunalen Zusammenarbeit. Für die Etablierung eines Radfernweges ist ein zentrales Projektbüro äußerst vorteilhaft. Dessen Aufgabe ist es, alle Entscheidungsträger und Anrainerkommunen mit ins Boot zu holen und das Netzwerkmanagement zu betreiben. Arbeitskreise mit Vertretern aus den Kommunen und Kreisen können sich mit unterschiedlichen Themen wie Infrastruktur und Marketing beschäftigen.
Wegweisung, Info- und Kartenmaterial
Eine gute Wegweisung ermöglicht es ortsfremden Radfahrenden, zügig voranzukommen und nicht an jeder Kreuzung einen Blick auf die Karte werfen zu müssen. Eine Beschilderung sollte nach den Hinweisen zur Beschilderung des Radverkehrs (HBR) erfolgen, die sich je nach Bundesland leicht unterscheiden (z.B. Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Brandenburg). Eine vorhandene Radwegweisung zeigt der lokalen Bevölkerung auch, dass in ihrer Region Radrouten existieren. Bei der Beschilderung ist allerdings zu beachten, dass Alltagsradfahrende andere Routen präferieren und andere Ziele ansteuern als Radreisende (siehe dazu unten).

Laut ADFC [2017] nutzen 79 % der Radreisenden die Wegweisung vor Ort zur Orientierung. Damit ist die Wegweisung die wichtigste Informationsquelle unterwegs, aber auch klassische Papierkarten (64 %), Smartphones (48 %), Internet (43 %), Radreiseführer (41 %), GPS-Geräte (32 %) und Tourist-Informationen (30 %) sind nicht zu unterschätzen [ADFC 2017]. Daher ist es wichtig, dass Informationen über Region und Route über verschiedene Medien abrufbar sind. Dies ermöglicht auch eine Planung und Information vorab. Über Kooperationen mit Tourismusverbänden, Webportalen und Verlagen ist es möglich, die Streuung dieser Informationen über unterschiedlichste Quellen sicherzustellen.
Infrastruktur
Auch Radtouristen radeln am liebsten auf asphaltierten Strecken mit nur geringem motorisiertem Verkehr. Sollte dies nicht auf allen Streckenabschnitten möglich sein, sollten die unbefestigten Wege dennoch ein zügiges und einfaches Vorankommen ermöglichen. Schlaglöcher, sandige Stellen oder morastiger Untergrund schmälern den Fahrspaß enorm. An idyllischen Plätzen oder an Sehenswürdigkeiten lohnt die Einrichtung von Rastplätzen, neben Sitz- und Unterstellmöglichkeiten sind Informationstafeln zur Strecke und zum Ort attraktiv. Radabstellanlagen und Schließfächer bieten die Möglichkeit, die Ortszentren zu Fuß zu erkunden. Ausgeschilderte Verleihstationen, Reparaturwerkstätten und eine Tourist-Information runden das Angebot ab.

Wirtschaftliche Effekte des Radtourismus
Statistisch gesehen sind Radreisende einkommensstärker als durchschnittliche Urlauber und geben im Urlaub relativ viel Geld aus. Zudem bleiben sie gerne in Deutschland, laut ADFC [2017] wollen 61 % der Befragten 2017 in Deutschland eine Radreise unternehmen. Der Radtourismus sichert damit Arbeitsplätze in den Regionen, insbesondere in den Bereichen Gastronomie, Einzelhandel und Dienstleistung. Aus diesem Grund stoßen Radverkehrsmaßnahmen in den entsprechenden Regionen oftmals auf breite Zustimmung in der Bevölkerung, Wirtschaft und Politik.
Der Ruhrtalradradweg, der erst 2006 eröffnet wurde und seit 2010 als 4-Sterne-Qualitätsradroute vom ADFC zertifiziert ist, gehört seit ein paar Jahren zu den beliebtesten Radfernwegen Deutschlands. 2016 belegte er den dritten, 2017 sogar den zweiten Platz in der ADFC-Radreiseanalyse. Zwischen 2006 und 2011 steigerten die Betriebe entlang des Radweges ihren Umsatz um 40 %. Die Ruhr Tourismus GmbH führte im Jahre 2014 eine Evaluation von Ruhrtalradweg und Römer-Lippe-Route durch, um die wirtschaftlichen Effekte des Radtourismus besser beurteilen zu können und neue Strategien für die Zukunft zu entwickeln. Durch Radverkehrsmessungen und Befragungen wurde deutlich, dass sich die Investitionen der Gemeinden und Kreise schon ab dem zweiten Jahr positiv in Bezug auf Steueraufkommen und Beschäftigungszahlen bemerkbar machen. Auch ein hohes Maß an Zufriedenheit der Radfahrenden und die damit verbundene für den Tourismus wichtige Weiterempfehlung wurden belegt [Lottritz 2015].
Für den wirtschaftlichen Erfolg eines Fernradweges ist neben der Qualität (ADFC-Qualitätsradroute, Bett+Bike-Kooperation) auch das Marketing essentiell. Ebenfalls unabdingbar ist die intensive Zusammenarbeit aller Kommunen und Kreise innerhalb des Gesamtprojektes.
Vom Fahrradtourismus zum Alltagsverkehr
Maßnahmen und Investitionen in den Radtourismus kommen auch der lokalen Bevölkerung zugute, sei es für die Naherholung oder für die Nutzung des Fahrrads im Alltag. Durch die Errichtung und Ausschilderung von guten Wegeverbindungen wird die Erreichbarkeit mit dem Rad erhöht, insbesondere in ländlichen Regionen.

Wenn rein touristische Radnetze für den Alltagsverkehr optimiert werden sollen, sind die unterschiedlichen Anforderungen von Radreisenden und Alltagsradelnden zu beachten. In diesem Fall macht es Sinn, gegebenenfalls auf bestimmten Verbindungen eine alternative Wegführung auszubauen und auszuschildern, die unter Umständen landschaftlich nicht attraktiv, dafür aber direkt führt und asphaltiert ist. Für die Nutzung in den Abendstunden oder im Herbst ist es vorteilhaft, wenn die Alternativstrecke beleuchtet ist. Sollten zwei Routenführungen existieren, ist es wichtig, dass die Beschilderung diese auch als Alltags- bzw. Freizeitrouten ausweist. Generell sollte bei der Planung von touristischen Routen auch immer der Alltagsverkehr mitgedacht werden, im Idealfall gilt dies auch umgekehrt, d.h. dass bei der allgemeinen Radverkehrsplanung der Tourismus ebenfalls beachtet wird.
Radtourismus kann im Allgemeinen als gutes Marketinginstrument für das Fahrrad angesehen werden. 30 % der Radreisenden fahren nach ihrem Radurlaub mehr Rad im Alltag [ADFC 2017].
Zusammenfassung und Ausblick
Erfolgreicher Radtourismus weckt die Zustimmung für den Radverkehr in der Bevölkerung, Wirtschaft und Politik. Daher kann Radtourismus der Türöffner für den Alltagsradverkehr sein. Wenn es gelingt, wichtige Stakeholder und Einflusspersonen von den positiven wirtschaftlichen Effekten des Radtourismus zu überzeugen, kann es einfacher sein, Mehrheiten für notwendige Investitionen in allgemeine Radverkehrsmaßnahmen zu erreichen. Insbesondere in ländlichen Regionen kann dies zu einer starken Förderung des Radverkehrs. Durch die zunehmende Verbreitung von Pedelecs werden in Zukunft auch hügelige Mittelgebirgsregionen profitieren, in denen der Radtourismus bislang eine marginale Rolle spielt.
Literatur
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